Gentle-Eyes-Prinzip
Denken Sie oft „Ich bin nicht gut genug“?
Oder vielleicht „Ich muss erfolgreich sein,“ „Ich darf keine Fehler machen.“, „Ich darf nicht krank sein,“ „Wenn ich scheitere, werden mich die anderen verachten“ oder „Ich bin viel zu dick“?
Wir alle kennen diese innere kritische Stimme, die unser Leben tagtäglich kommentiert und an die wir uns gewöhnt haben. Permanent schreibt sie uns vor, wie wir zu sein haben, was wir alles noch erledigen müssen und was wir nicht tun dürfen (z.B. eine Pause machen).
Besonders Frauen werden mit vielen, teilweise sogar gegensätzlichen Anforderungen in Beruf, Partnerschaft und Familie sowie Gesellschaft konfrontiert (z. B. hohe Kompetenz und langjährige Berufserfahrung einerseits und andererseits perfekte Hausfrau/Mutter mit jugendlicher Erscheinung).
Außerdem müssen durch die stetige Arbeitsverdichtung immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigt werden. Wer dann die äußeren Ansprüche auf Höchstleistungen ungeprüft übernimmt, kann in ein Perfektions-Hamsterrad geraten, in dem sich Stress und Druck mit Frust mit dem Empfinden „Ich-bin-nicht-gut-genug“ abwechseln.
Mit häufigen Gedanken des Nicht-Genügens wird das Selbstwertgefühl permanent untergraben. Dadurch wird es schwieriger, die beruflichen Herausforderungen zu bewältigen und eine leistungsgerechte Vergütung einzufordern. (Hier könnten Sie sich vielleicht ertappen: „Ich sollte mich nicht so oft kritisieren“? Oder etwas Ähnliches wie: „Ich bin einfach unmöglich“?)
Der Perfektionsdruck und das permanente Antreiben zu perfekten Leistungen bei gleichzeitigem Eindruck zu scheitern, haben gravierende, gesundheitliche Folgen: die durchgängige körperliche Anspannung führt zu Schlaflosigkeit, Erschöpfung und im schlimmsten Fall zum Burn out.
Die Gründe für das Streben nach Perfektionismus sind meist:
- Mehr Anerkennung, Lob und Zuwendung zu erhalten und/oder
- Schutz vor Kritik durch wichtige Bezugspersonen.
Maßnahmen zum erholsamen Ausgleich werden entweder unterlassen oder dienen lediglich dem Zweck, weiter zu funktionieren.
Um aus dem Hamsterrad der Perfektion auszusteigen, ist es not-wendig, den „Autopiloten“ mit den bisher praktizierten Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern zu verlassen.
Wie ist das möglich?
Das Gentle-Eyes-Prinzip
Beim Gentle-Eyes-Prinzip (oder auch Sanfte-Augen-Prinzip) wird die gnadenlose Selbstkritik immer mehr ersetzt durch einen behutsamen Umgang mit sich selbst. Stufenweise wird die bisherige eingeengte Sichtweise durch neue Perspektiven und Einsichten erweitert. Der Ausdruck „Augen“ bezeichnet (wie „eyes“ im Englischen) bei Pflanzen den Wachstumspunkt, in dem alle Anlagen, die bereits angelegt sind und aus dem dann ein neuer Spross oder eine neue Blüte hervorgehen.
Achtsamkeit – die Voraussetzung für jede Veränderung
Ich habe selbst und mit meinen Klienten immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Ausgangsbasis für Veränderungen das „Auf-mich-achten“ mit Hilfe von Achtsamkeit ist. Darunter verstehe ich die Fähigkeit, Gedanken und Gefühle als innere Ereignisse zu begreifen, ohne darauf zu reagieren und ohne darüber zu urteilen.
Vielleicht kennen Sie das erdrückende Gefühl, Ihre Gedanken oder Gefühle „zu sein“. Das können sein
- heftige Versagensängste
- schmerzhafte Enttäuschung
- überwältigende Schuldgefühle.
Dieser Eindruck entsteht, wenn Sie mit dem Gedanken oder dem Gefühl voll identifiziert sind.
Durch achtsames Ge-wahr-sein dessen, was gerade ist, unterbrechen Sie kritisches oder sorgenvolles Denken und gewinnen so Abstand zu belastenden Gedanken und Gefühlen.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie Sie das bei der Flut an täglichen Aufgaben auch noch hinbekommen sollen. Sie brauchen jedoch nur die Entscheidung zu treffen, einige Male am Tag einen Moment innezuhalten. Denn jede bewusste Wahrnehmung in der Gegenwart beschert Ihnen einen Augenblick der Achtsamkeit.
Vielleicht möchten Sie es gleich einmal ausprobieren? Dann halten Sie einen Moment inne. Spüren Sie in sich hinein und anschließend fragen Sie sich: Fühle ich mich gestresst oder eher ruhig? Wo im Körper spüre ich Spannungen?
Sich der inneren kritischen Stimme bewusst werden
Achtsamkeit hilft zu erkennen, wie die innere kritische Stimme Sie ständig antreibt. Oft geht es darum, etwas Bestimmtes zu Tun („Du musst das noch einmal überarbeiten, bevor Du Feierabend machst“) oder zu lassen (Du darfst hier auf keinen Fall unangenehm auffallen“). Mit Achtsamkeit können Sie beobachten, wie sich das auf Ihre Stimmung auswirkt.
Diesem sogenannten inneren Kritiker entgeht nichts (es kann auch eine weibliche Stimme sein). Ich habe festgestellt, dass er über ein breites Spektrum von Kommentaren verfügt. Manchmal säuselt er ein kaum wahrnehmbares „Das hättest du besser hinbekommen sollen“. Regelmäßig ist er unzufrieden mit dem geleisteten Arbeitspensum, unabhängig davon, wieviel es ist und was an Unvorhergesehenem dazwischen kam. Ganz schlimm schlägt er zu, wenn er die Reaktionen anderer zu kennen meint: „Du bist zu spät gekommen. Die anderen fühlen sich bestimmt gestört und denken, die Angelegenheit ist dir nicht wichtig.“
Diese negativen Kommentare lösen unangenehme Gefühle sowie automatisierte Reaktionsmuster aus, die oftmals nicht zielführend sind. Schlimmstenfalls kommt es zu einer Blockade und es geht nichts mehr. Wichtig ist daher, die Strategien des inneren Kritikers zu erkennen und seine entwertenden Kommentare zu stoppen. Mit dem Gentle-Eyes-Prinzip können Sie den inneren Kritiker zu einem hilfreichen Unterstützer zu machen. Dann sorgt er dafür, nicht voreilig oder unüberlegt zu handeln.
Woher kommt der innere Kritiker?
Während der Kindheit wollen Eltern ihrem Kind beibringen, sich in der Gesellschaft angemessen zu verhalten, d.h. es soll lernen, was „gut“ ist und was „böse“. Die Eltern und andere Bezugspersonen (Verwandte, Nachbarn, Lehrer, Mitschüler) vermitteln dem Kind ihre Moralvorstellungen.
Da Kinder von ihren Eltern abhängig sind, übernehmen sie deren Maßstäbe. Aus den Erfahrungen, in denen sie den Erwartungen der Bezugspersonen nicht entsprechen, entwickelt sich der innere Kritiker. Dieser sorgt vor allem mit beißenden Schuld- und Schamgefühlen dafür, dass wir uns angepasst verhalten.
Eigentlich möchte der innere Kritiker uns schützen. Denn er bewahrt uns auf diese Weise davor, dass wir ständig Ärger erregen und ausgegrenzt werden. Doch diese „Sicherheit“ hat ihren Preis: Je mehr wir den beißenden Einwänden des Kritikers glauben, desto weniger trauen wir uns zu und vermeiden neue Herausforderungen.
Außerdem werden durch permanente Selbstbeobachtung und -kontrolle ein freier Selbstausdruck, Spontanität und Lebendigkeit stark beeinträchtigt.
Mitgefühl entwickeln
Wie reagieren Sie, wenn ein Kind vielleicht unachtsam war, sich deshalb heftig gestoßen hat und anfängt zu weinen? Sagen Sie dann: „Selbst schuld, hättest du bloß besser aufgepasst“?. Oder beruhigen Sie das Kind, nehmen es vielleicht in den Arm und trösten es, um seinen Schmerz zu lindern?
Mit Hilfe des Gentle-Eyes-Prinzip lernen Sie, gut für sich selbst zu sorgen, wenn Sie sich mal wieder an etwas Misslungenem „gestoßen“ haben. Statt sich klein und unzulänglich zu fühlen und in eine „Problemtrance“ zu geraten, führt Freundlichkeit sich selbst gegenüber zu einer offenen Haltung. Sie fühlen sich besser und haben ausreichend Energie, um Hindernisse und Probleme zu beseitigen.
Wie mit Kritik umgehen?
Kritik wird dann als verletzend empfunden, wenn sie einen Angriff auf das Selbstwertgefühl darstellt. Das kann auch bei konstruktiver Kritik der Fall sein. Wer häufig Selbstkritik übt ist besonders sensibel gegenüber kritischen Bemerkungen anderer. Manchmal wird dann etwas als Kritik aufgefasst, was gar nicht negativ oder gar als Kompliment gemeint war (Aussage: „Du siehst toll aus in diesem Kleid.“ Antwort: „Ja, ja, ich weiß, dass ich zu dick bin.“)
Nun ist Kritik im Berufsleben wohl nicht vermeidbar. Um souverän damit umgehen zu können ist es zunächst wichtig, den inneren Kritiker von einem Dauernörgler zu einem Unterstützer zu machen. Wenn Sie bewusst einerseits die hilfreichen Beiträge des Kritikers beachten und andererseits erkennen, wann die Kommentierungen kontraproduktiv sind, schaffen Sie Klarheit im Kopf und Sicherheit im Verhalten.
Ihre neugewonnene Klarheit und Sicherheit strahlen Sie aus und das wirkt sich auf ihr berufliches (und privates) Umfeld aus; sie erfahren dann mehr Wertschätzung. Das ist keine Zauberei, sondern hängt mit systemischen Gesetzmäßigkeiten zusammen. „Systemisch“ bedeutet, dass zwischen den Mitarbeitern einer Abteilung (oder Angehörigen einer Familie) Wechselwirkungen bestehen. Wenn nun ein Beteiligter sein Verhalten und vor allem seine innere Haltung verändert, bewirkt das auch Veränderungen bei den Anderen.
Den Selbstwerttopf füllen
Es gibt keine einheitliche Beschreibung davon, was „Selbstwert“ eigentlich ist; der Ausdruck „Selbstwerttopf“ stammt von der Familientherapeutin Virginia Satir. Bewährt hat sich, drei Komponenten des Selbstwertgefühls zu unterscheiden:
- Der grundlegende Selbstwert entspricht der unbedingten Selbstakzeptanz eines Menschen, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg („Trotz meiner Fehler und Unzulänglichkeiten bin ich o.k.“).
- Der bedingte (erfolgsabhängige) Selbstwert ist der Teil, der abhängig von der Bewertung der eigenen Leistung, des Erfolgs, der Attraktivität sowie der Wertschätzung und Anerkennung durch Andere ist („Ich bin nur liebenswert, wenn ich etwas leiste.“ oder „Ich werde nur akzeptiert, wenn ich keinen Fehler mache.“).
- Beim Selbstvertrauen schließlich geht es darum, wie ich meine Fähigkeiten und mein Können einschätze und ob ich daran glaube, meine Ziele erreichen zu können. Hohes Selbstvertrauen geht einher mit Gefühlen von Sicherheit und Selbstwirksamkeit.
Bei Perfektionistinnen ist der erfolgsabhängige Selbstwert besonders empfindlich gegenüber Kritik, Fehlern und Misserfolgen. Der Selbstwerttopf kann zum einen dadurch befüllt werden, dass mit dem Gentle-Eyes-Prinzip die unbedingte Selbstakzeptanz verbessert wird. Zum anderen geht es darum, den erfolgsabhängigen Selbstwert „zu immunisieren“. Das geschieht, in dem eine breitere Basis geschaffen wird, um unabhängiger von der (vermuteten oder tatsächlichen) Bewertung anderer zu werden.
Bereichernde Ziele, die Ihrer Persönlichkeit wirklich entsprechen
Wenn Sie die Messlatte für die Bewertung Ihrer Leistungen immer so hoch legen, dass das Ziel nicht erreicht werden kann, untergraben Sie Ihren Selbstwert. So füttern Sie das Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Vielleicht streben Sie bewusst oder unbewusst einem besonders erfolgreichen Elternteil oder sogar einem unerreichbarem Ideal nach. Schließlich sind gute Leistungen mit beruflichem sowie finanziellem Erfolg verbunden und führen zu gesellschaftlicher Anerkennung.
Gerade im beruflichen Bereich werden daher solche Maßstäbe oft ungeprüft übernommen. Für eine dauerhafte Zufriedenheit ist es jedoch not-wendig, sich einerseits die hinderlichen Selbstbewertungsregeln und andererseits die eigenen Werte, Fähigkeiten und Vorstellungen bewusst zu machen.
Es geht darum, für Sie maßgeschneiderte Ziele, die Ihnen Rückenwind geben, zu formulieren und eigene Erfolgsmaßstäbe zu definieren . So erleben Sie eine höhere Motivation, machen sich die Arbeit leichter und Aufschieberitis ist kein Thema mehr. Zum Beispiel ist es mir ohne den Anspruch, jede Leserin anzusprechen, viel leichter gefallen, diesen Beitrag zu verfassen.
So vereinfachen Sie Ihr Leben
Bis hierhin haben Sie erfahren, wie ein förderlicher Umgang gelingen kann mit dem, was sonst als hinderlich und schwer erlebt wird.
Darüber hinaus können Sie aktiv Leichtigkeit in Ihr Leben einladen, indem Sie die Voraussetzungen für Gefühle schaffen, die Sie beflügeln. Sonst besteht die Gefahr, dass sich Ihre Aufmerksamkeit einseitig auf Geldverdienen und die Bewältigung des Alltags mit seinen beruflichen und privaten Verpflichtungen richtet.
Hilfreich ist hier die Broaden-and-Built-Theorie, die von der Wissenschaftlerin Barbara Fredrickson entwickelt wurde. Die Theorie basiert auf der Annahme, dass positive erhebende Emotionen wie Dankbarkeit, Heiterkeit, Zufriedenheit, Interesse und Liebe unsere Herzen und unseren Geist öffnen (open-mindedness). Dadurch erweitern sich unsere Denk- und Handlungsspielräume. Durch positive Erfahrungen bauen Sie persönliche Ressourcen auf, z.B. verfügen Sie über mehr Energie, sind kreativer und verbessern unsere Fähigkeiten zur Problemlösung.